Berger war sich stets bewusst, dass es dem britischen Physiologen Richard Caton (1842–1926) tierexperimentell bei Kaninchen und Affen schon 1875 gelungen war, über dem freigelegten Kortex elektrische Aktivität abzuleiten [12,13,14], und diesem daher die Ehre der entsprechenden Entdeckung der elektrischen Aktivität des Kortex gebührte. Bekannt waren ihm höchstwahrscheinlich auch weitergehende tierexperimentelle Befunde des polnischen Physiologen Adolf Beck (1843–1942) [15, 16], des russischen Physiologen Vasily Iakovlevich Danilewsky (1852–1939) [17], des österreichischen Physiologen Ernst Fleischl Edler von Marxow (1846–1891) [18] und schließlich des russischen Physikers, Physiologen und Arztes Vladimir V. Práwdicz-Neminski (1879–1952), der nach entsprechenden Vorversuchen bereits 1925 eine als „Electrocerebrogramm“ bezeichnete fotografische Aufzeichnung der elektrischen Aktivität des Gehirns von Tieren veröffentlicht hatte [19, 20].
Bergers Forschungstätigkeit war ein über viele Jahre andauernder Prozess, in dem sich gemäß seiner Tagebuchaufzeichnungen Erfolge und Resignation immer wieder abwechselten. Als Datum der ersten von ihm analog zum Elektrokardiogramm (EKG) als „Elektrenkephalogramm“ oder kurz E.E.G. bezeichneten Ableitung beim Menschen gab Berger in seiner Publikation von 1929 retrospektiv den 06.07.1924 an [21]. Dies geschah an seinem damals 18-jährigen Patienten Carl Seidel, der von Berger infolge einer Hirntumoroperation als idealer Proband auserwählt wurde [11]. In seinen Tagebüchern finden sich hierzu folgende Eintragungen [22, 23]:
9. März 1924: Habe gestern eine unipolare Rindenreizung beim Menschen mit einem Knochendefekt mit Erfolg durchgeführt.
2. Juni 1924: D[ie] Idee nachzusehen nach Rindenströmen bei den pall[iativ] trepanierten Menschen.
14. Juni 1924: Es kam mir die Idee, die Untersuchungen über Rindenströme bei den Leuten mit Schädeldefecten nochmals zu versuchen. Ich bereite alle Apparate dafür vor.
6. Juli 1924: Habe auch bei Frau H[.] zeitmessende Versuche gemacht. Mit dem kleinen Saitengalvanometer auch Muskelströme der Flexoren d. Unterarmes schön positiv. Heute Versuche bei Z[.] mit Rindenströmen zweifelhaft, bei intell[ektuellen] Leistungen wohl positive Ergebnisse, aber Galvanometer nicht empfindl[ich] genug!
Berger kam am 02.06.1924 die Idee, physiologische Rindenströme bei trepanierten Menschen abzuleiten ([22]; Abb. 3). Bis zur erfolgreichen Umsetzung dieser Idee am 06.07.1924 vergingen kaum 5 Wochen – bis zur Publikation seiner Resultate 1929 waren es jedoch ganze 5 Jahre. Die Ursache für diesen großen zeitlichen Abstand wird von vielen Autoren und ehemaligen Mitarbeitern v. a. in Bergers Persönlichkeitsstruktur gesehen, insbesondere in seiner Perfektionsliebe, die sich zur Pedanterie ausweiten konnte und die mit regelrechter Furcht vor Kritik einhergegangen sei [11]. Er habe sich und seine Resultate immer wieder radikal infrage gestellt, insbesondere da es ihm in diesen 5 Jahren nicht gelungen war, seinen Aufzeichnungen von Rindenströmen jene Stabilität zu verleihen, die ihm vorschwebte [22]. Auch seine Entdeckung vom 06.07.1924 zog er gemäß seinem Tagebuch zunächst in Zweifel und vertraute seinen Beobachtungen erst sehr viel später. Noch 1928 überlegte er, seine Forschungen zum EEG einzustellen, bevor er sich einige Monate später dann doch bestätigt sah [23]:
11. Juli 1928: Ich habe das Bedürfnis nach schöpferisch wissenschaftlichen Arbeiten. Ich habe mehrere Jahre an dem vermeintlichen EEG gearbeitet. Was nun? EEG aufgeben!
16. Januar 1929: Ich habe fleißig an der Sache mit dem EEG gearbeitet u[nd] habe nun endlich sichere Ergebnisse gewonnen
3. Juni 1929: Soeben glänzende Electrenkephalogramme mit chlorierten Silbernadeln aufgenommen! Ich danke Dir mein Gott!
Abb. 3Erstes Elektroenzephalogramm (EEG) – Dieser von Hans Berger entwickelte Prototyp des EEGs war viele Jahre das einzige Modell in der Jenaer Nervenklinik. (Publiziert von Rudolf Lemke, 1954, Universitätsarchiv Jena Bestand V Abt XLVI Nr 43 Bl 1r)
In der deutschsprachigen Fachwelt wurden seine Ergebnisse zunächst kaum ernst genommen und teilweise sogar belächelt, u. a. an seiner eigenen Fakultät vom Physiologie-Ordinarius [24]. Es wurden Zweifel geäußert, da man eine so einfache Aufzeichnung von Hirnaktionspotenzialen nicht ausgerechnet von einem Psychiater erwartet habe [5].
Demgegenüber war die Anerkennung durch ausländische Wissenschaftler ungleich größer. So hatte der britische Neurophysiologe und Nobelpreisträger Lord Edgar Douglas Adrian (1899–1977) zwar zunächst ebenfalls Artefakte vermutet, replizierte dann aber Bergers Befunde und befürwortete 1934 ebenso wie 1935 der kanadische Psychologe, klinische Neurophysiologe und Epileptologe Herbert Henri Jasper (1906–1999) in Publikationen in Brain [25] bzw. Science [26] vorbehaltlos die klinische Anwendung der neuen Methode.
Adrian hatte zudem nicht nur vorgeschlagen, das Phänomen des durch Augenöffnen unterdrückten α‑Rhythmus nach Berger zu benennen, sondern die EEG-Wellen auch insgesamt als Berger-Wellen. Berger lehnte dies jedoch ab und nannte sie nach dem griechischen Alphabet α‑, β‑, δ‑Wellen [27].
Berger beginnt seine erste Publikation über das EEG 1929 mit den folgenden Worten: „Schon in meiner späteren Gymnasialzeit habe ich mich für den Zusammenhang zwischen körperlichen und geistigen Vorgängen ganz besonders interessiert, und ein Buch von Schroeder van der Kolk, ‚Seele und Leib‘, das ich damals unter den Büchern meiner Mutter fand, hat mich für die Beschäftigung mit dieser Frage begeistert.“ [21, 28] Jacobus Ludovicus Conradus Schroeder van der Kolk (1797–1862) war ein niederländischer Anatom und Physiologe sowie Psychiater, ab 1827 Professor der Anatomie und Physiologie in Utrecht und gleichzeitig Inspektor von psychiatrischen Kliniken („Irrenanstalten“). Er war einer der ersten Ärzte, die den Ursprung der Epilepsien nicht nur theoretisch, sondern auch aufgrund von morphologischen Untersuchungen in das Gehirn verlagerte, wenngleich er mit seiner Annahme der Medulla oblongata als Ursprungsort nicht richtig lag [29]. Berger interessierte sich für das ganze Gehirn und konzentrierte sich bei seinen psychophysiologischen Forschungen nach negativen Befunden bezüglich des zerebralen Gefäßsystems früh auf die Hirnrinde: „Ich hatte dabei damals schon Untersuchungen über die elektrischen Vorgänge in der Großhirnrinde, die sog. ‚Rindenströme‘, die ich zu jener Zeit aus dem Schrifttum kennengelernt hatte, im Auge.“ [21] Mit diesem Ansatz befand er sich im Gegensatz zu der Mehrheit seiner neurophysiologischen Kollegen, die sich damals mehr für Einzelpotenziale von Nervenfasern interessierten, das Nervensystem als Telegrafensystem des Körpers imaginierten und das Alles-oder-Nichts-Gesetz des Nervenimpulses aufstellten. Das EEG als permanente intrinsische Aktivität des Gehirns verwirrte ihn zwar genauso wie die Neurophysiologen, aber er suchte nach den Äquivalenten von Denken und Seelenvorgängen, nicht nach Nervenaktionspotenzialen.
Berger publizierte ab 1929 in 14 Einzelveröffentlichungen fast alle wesentlichen normalen und pathologischen EEG-Veränderungen bei gesunden Erwachsenen, bei Kindern, im Schlaf, bei Narkose und Anoxie sowie bei Epilepsie, Hirntumoren, Hirntraumen und anderen Hirnerkrankungen [23] – alle unter dem Haupttitel „Über das Elektroenzephalogramm des Menschen“. Anlässlich seiner Aufnahme in die deutsche Akademie der Naturforscher „Leopoldina“ in Halle legte er 1938 die zusammenfassende Darstellung „Das Elektroenzephalogramm des Menschen“ vor [30].
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