Stuttgart, März 2022 – Die Mundhöhle ist nach dem Dickdarm der am dichtesten mit Mikroorganismen besiedelte Ort des menschlichen Organismus. Die gesunde Mundhöhle eines einzelnen Erwachsenen beherbergt ein Mikrobiom mit circa sechs Milliarden Mikroorganismen. Die moderne Lebensweise mit übermäßigen xenobiotischen Expositionen sowie zucker- und energiereichen Ernährungsweisen führt nicht nur im Darm, sondern auch in der Mundhöhle zu substratgetriebenen Dysbiosen. In beiden Fällen geht die mikrobielle Homöstase durch quantitativ und qualitativ gestörte Zusammensetzungen des Mikrobioms verloren. Am Ende einer langen Reaktionskette steht dann eine Beschleunigung des Entzündungsalterns im Körper (Inflammaging). Das Ziel der Oralen Präventivmedizin besteht nicht nur darin, Zähne und Zahnhalteapparat in gesundem Zustand zu erhalten, sondern gerade dadurch den Inflammaging-Prozess zu unterdrücken und die Gesundheitserwartung zu erhöhen. Dr. René B. A. Sanderink, Prof. Dr. Heinz H. Renggli und Prof. Dr. Ulrich P. Saxer setzen sich mit ihrem Fachbuch „Orale Präventivmedizin. Eine interdisziplinäre Herausforderung“ (Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 2022) für die Vernetzung von Oral- und Allgemeinmedizin bei der Gestaltung akademischer Curricula und bei der Behandlung von nichtübertragbaren Volkskrankheiten ein.
Die Mundhöhle ist warm, feucht und nahrungsreich. Sie bietet somit ideale Bedingungen für mikrobielles Wachstum und Viruspersistenzen. Bis zu 1000 verschiedene Bakterienarten allein besiedeln Zähne, Zahnersatz, Zahnfleisch und Schleimhäute. Sie tun das in Form von strukturierten Gemeinschaften (Biofilme), deren Bekämpfung den Einsatz von mechanischen Hilfsmitteln, wie der Zahnbürste, oder von Schalltechnologie erfordert. „Die Bildung dieser Biofilme ist unvermeidbar und entwicklungsbiologisch sogar so vorgesehen“, wissen die Autoren. Die vielen Mikroorganismen und Viren des gesunden Orodigestivtrakts leben mit dem menschlichen Wirt zusammen, ohne ihm zu schaden. Die Etablierung von Krankheitserregern hingegen wird von ihnen unterdrückt. „Diese Kolonialisierungsresistenzen stellen einen entwicklungsbiologisch sehr alten Immunmechanismus dar, der nur dann funktioniert, wenn sich das Mikrobiom in einem homöostatischen Gleichgewicht (Eubiose) befindet und das Immunsystem eine physiologische Reaktionslage aufweist“, erläutern die Experten.
Geht die mikrobielle Homöstase im Orodigestivtrakt durch quantitativ und qualitativ gestörte Zusammensetzungen des Mikrobioms (Dysbiose) verloren, kann sich die Durchlässigkeit der auskleidenden Epithelien – insbesondere der gingivalen Saumepithelien und der intestinalen Epithelien – pathologisch erhöhen. Da die Schleimhaut des Orodigestivtraktes gleichzeitig nicht weniger als nahezu drei Viertel all unserer Immunzellen beherbergt, kommt es in der Folge zu Änderungen bei der systemische Reaktionslage des Immunsystems. Das wiederum erhöht die Risiken für das Auftreten von nicht-übertragbaren, chronischen Entzündungserkrankungen einschließlich Volkskrankheiten wie Allergien, Autoimmunerkrankungen, Diabetes mellitus oder kardiovaskuläre Krankheiten und damit die systemische Entzündungslast.
Geraten orale Biofilme in einen dysbiotischen Zustand – nicht selten substratgetrieben, oder hervorgerufen durch ein Überangebot an Zucker in der Nahrung, oder infolge von aus entzündetem Zahnfleisch austretenden Serumexsudat – kann es zudem zu progredient verlaufenden Kariesprozessen beziehungsweise Parodontalerkrankungen kommen. „Es besteht eine wechselseitige Beziehung zwischen diesen oralen Erkrankungen und der allgemeinen Gesundheit“, erklären die Autoren. „Beispielsweise entziehen das überzuckerte Blut, beziehungswiese der hochosmolare Blutzucker, bei Diabetikern Wasser aus den Körperzellen, was in der Mundhöhle zu einem Speichelmangel führt. Solche Hyposalivationen führen unweigerlich zu erhöhten Biofilmbildungen mit erhöhten Dysbiosegefahren beziehungsweise zu einem vermehrten Auftreten oralpathogener Keime und entsprechend erhöhten Karies- und Entzündungsrisiken. Umgekehrt fördern diese oralen Erkrankungen zum Beispiel das Auftreten von Fettleibigkeit (Adipositas) oder beeinflussen die Verläufe chronisch-degenerativer Volkskrankheiten wie Diabetes mellitus negativ, indem beispielsweise oralpathogene Mikroben, ihre Bestandteile und ihre Produkte beim täglichen Zähneputzen des parodontal entzündeten Gebisses in den Kreislauf gelangen und dort die Synthese von Entzündungsmolekülen induzieren, die Insulinresistenzen erhöhen“, so die Autoren. „Die Behandlung von Entzündungen im Mundraum kann also eine wertvolle Ergänzung bei der Diabetestherapie sein, denn sie trägt zur Verbesserung des glykämischen Status (HbA1c-Werte) bei. Umgekehrt gelingen Parodontalbehandlungen besser, wenn der Blutzuckerwert eines Diabetikers und damit Gefäßhomöostase und Speichelfluss vor der Behandlung verbessert wurden“, sagen die Autoren.
Wechselwirkungen zwischen der Mundgesundheit und der allgemeinen Gesundheit werden auch für anderweitige chronische Erkrankungen erforscht. So erhöhen, laut Autoren, unbehandelte orale Infekte beispielsweise die Risiken für progredient verlaufende Arteriosklerosen und COVID-19 Infektionen, oder neurodegenerative Erkrankungen wie Morbus Alzheimer. Sogar das ungeborene Kind kann bleibende Schäden während der Schwangerschaft durch unbehandelte orale Erkrankungen erleiden. „Alles in allem sollten Zahnärzte ihr allgemeinmedizinisches Wissen, speziell auf dem Gebiet der inneren Medizin, laufend dem neuesten Stand der Wissenschaft anpassen. Umgekehrt sollten Allgemeinmediziner in der Lage sein, im Zuge der oralen Kurzinspektion („Zunge rausstrecken!“), progredient verlaufende Kariesprozesse und Zahnbetterkrankungen ansatzweise zu entdecken,“ sind sich die Autoren einig.
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